Muskel- und Skeletterkrankungen verursachen die höchsten Fehltage. Eine Herausforderung bildet das "ungebrochene Anwachsen" der Seelennöte - Depressionen, Ängste, Stress.
Betriebliches Gesundheitsmanagement,
Work-Life-Balance, Health Management - Das sind nur einige Begriffe, die den
Bewusstseinswandel in Sachen Gesundheit als Privatsache hin zum
Wettbewerbsfaktor beschreiben. Vom Beinbruch zum Burn-out, von der Prellung zur Psychose: Auch die Gründe der
Erkrankungen scheinen sich zu wandeln. Laut den mit dem Titel "Gesundheit
der Arbeit" überschriebenem Gesundheitsreport 2011 der Betriebskrankenkassen (BKK),
nehmen psychische Krankheiten kontinuierlich zu. Der Gesundheitsreport erfasst und analysiert das gesundheitliche Geschehen von 12,1 Millionen BKK Versicherten aus dem Jahr 2010. Das entspricht den Befunden von jedem fünften sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland. Die BKK-Analysen stellen damit ein gutes Abbild des Krankheitsgeschehens in der Arbeitswelt dar.
Psychische Krankheiten sind der BKK zufolge inzwischen für jeden
achten Krankheitstag verantwortlich. Von 10,7 Prozent im Jahre 2009 waren ein
Jahr später 12,00 Prozent aller Fehltage auf seelische Störungen
zurückzuführen. Schlägt eine Erkrankung im Durchschnitt mit einer Dauer von 12,8
Tagen zu Buche, so bedingen Stress, Depressionen, Burn-out und Co. einen
Ausfall für durchschnittlich 35,2 Tagen. Nur bösartige Tumorerkrankungen weisen
mit einer Dauer von im Durchschnitt 36,6 Tagen pro Fall noch längere Fehlzeiten
auf. "Die meisten Arbeitsunfähigkeitstage", so das Ergebnis der
BKK-Studie, "fielen 2010 auf die Telefonisten mit 21,3 Tagen, was einen
Anstieg von 1,4 Tagen zu 2009 bedeutet." Diese Zahlen werden nur noch von
Erwerbslosen übertroffen, die die Gruppe mit den häufigsten psychischen
Krankheitstagen anführen. Hier spiegele sich die Veränderung in der Arbeitswelt
wider, unter der sich "beispielsweise das Spektrum der AU-Diagnosen
bereits seit Jahren von Herz- und Kreislauferkrankungen auf muskuloskelettale
Erkrankungen und besonders psychische Störungen verschiebt".
Psychosoziale Krankheiten werden bei Frauen häufiger diagnostiziert als bei Männern. Muskel- und Skeletterkrankungen dagegen betrafen mehr als ein Drittel häufiger Männer. Quelle: BKK Bundesverband GbR |
Sorgen und Ängste, Stress und Niedergeschlagenheit nehmen immer weiter zu. So begrüßenswert eine Trendwende wäre - bislang ist sie nicht in Sicht. Quelle: BKK Bundesverband GbR |
Arbeitslose und Telefonisten beiderlei Geschlechtes weisen die meisten psychischen Erkrankungen auf. Quelle: BKK Bundesverband GbR |
Beschwerden des Muskel-Skelett-Apparates, unter diesem sticht vor allem das Rückenleiden heraus, führen mit 26,6 Prozent die Liste der Krankheitsgruppen an, welche für eine Arbeitsunfähigkeit sorgen. Danach folgen Atemwegserkrankungen (14,4 Prozent), Verletzungen und Vergiftungen (13,6 Prozent) sowie, auf Rang vier, die erwähnten seelischen Leiden. Wie es in der Studie heisst, rangierten die psychischen Erkrankungen Anfang der Neunzigerjahre noch auf Platz sieben der Ursachen für Arbeitsausfall. Davor waren sie "nahezu bedeutungslos". "Die versorgungspolitisch bedeutsamste Entwicklung", stellt der Gesundheitsreport fest, "betrifft zweifellos das ungebrochene Anwachsen der psychischen Störungen als Krankheitsursache. Zum einen werden diese Krankheiten heutzutage in der ärztlichen Praxis erkennbar häufiger als früher diagnostiziert und behandelt, zum anderen nehmen unter den heutigen Arbeitsverhältnissen die psychischen Stressfaktoren bei zunehmenden Leistungsanforderungen, einer ständigen Arbeitsverdichtung und -entgrenzung, häufig noch verbunden mit der Sorge um den Arbeitsplatz, zu. Dieser Entwicklung angemessen zu begegnen, ist eine Herausforderung gleichermaßen für die Akteure im Gesundheitswesen wie für Arbeitgeber und Beschäftigte."
Die ökonomischen Kosten der Krankheit
Tatsächlich muss hier meines Erachtens von einer gesamtgesellschaftlichen Herausforderung gesprochen werden. Diese zeigt sich beispielhaft schon an folgenden Zahlen: 254,3 Milliarden Euro, so das Statistische Bundesamt, wurden im Jahr 2008 für die Prävention, Behandlung, Rehabilitation und Pflege von Erkrankungen und Unfällen aufgewendet. Die psychosozialen Krankheitskosten betrugen dabei 28,7 Milliarden Euro - nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen (37 Milliarden Euro) und den Störungen des Verdauungssystems (34,8 Milliarden Euro). Diese Ausgaben bilden indes nur einen Pfeiler der Rechnung ab. Der volkswirtschaftliche Verlust umfasst ebenfalls die durch eine Krankheit ausgehende Arbeitsunfähigkeit, eine Invalidität und auch einen frühzeitigen Tod. 3,9 Millionen Erwerbsjahre sind so im Jahre 2006 verloren gegangen. "Insgesamt ist ein Rückgang der verlorenen Erwerbstätigkeitsjahre zu erkennen, die Anzahl der verlorenen Erwerbstätigkeitsjahre aufgrund der Depressionen nimmt hingegen zu", ist in einem Beitrag aus der Reihe "Gesundheitsberichterstattung des Bundes" zu lesen. Weiter heisst es, dass "die Berichte der Krankenkassen verdeutlichen, dass unter den affektiven Störungen die Depressionen dominieren und deren Diagnose deutlich zunimmt."
Vor dem Hintergrund der direkten wie indirekten Folgen der Krankheitsfälle kann es nur als weise bezeichnet werden, dass das Thema Gesundheit auf Arbeitgeberseite heute mehr Aufmerksamkeit findet. Den enormen durch Krankheit verantworteten Ressourcenverlust steht nämlich der Wettbewerbsvorteil Gesundheit gegenüber. Im Fachbeitrag zur "Gestaltung gesunder Arbeit" der BKK-Studie schreibt Eberhard Ulrich vom Institut für Arbeitsforschung und Organisationsberatung, dass die "Gestaltung gesundheitsgerechter Arbeit als Element der corporate social responsibility und Aufgabe des Managements prinzipiell auch in die Unternehmensbewertung einzubeziehen" sei. Dass die Berufstätigkeit so auch zu einer Prävention und einer Stärkung der Gesundheit beitragen kann, gerät leider allzu oft in Vergessenheit. Das Engagement für die Gesundheit und das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter sowie deren Leistungsfähigkeit liegt letztlich im Eigeninteresse des Unternehmers. Es ist ein buchstäblicher Gewinn für beide Seiten. (ucy)
Weiterführende Informationen sowie Hilfsangebote erhalten Sie auf folgenden Seiten:
• Lokale Ansprechpartner im Notfall und einen "Selbsttest" bietet die Stiftung Deutsche Depressionshilfe.
• Sorgen kann man teilen. Mit der TelefonSeelsorge. Unter der kostenfreien Rufnummer 0800/1110111 können Sie sich ausgebildeten, ehrenamtlichen Helfern anvertrauen - per Telefon, Chat oder E-Mail.
• Ein Kinder- und Jugendtelefon einerseits und ein Elterntelefon andererseits bietet der Verein Nummer gegen Kummer.