Mittwoch, 1. August 2012

Ein Gefühl von Gerechtigkeit schaffen

Erstmals seit zwanzig Jahren stieg die Anzahl der Menschen, die im Straßenverkehr ums Leben kamen. Eine Entschädigung für die Hinterbliebenen gibt es bislang nicht. Langfristig wird der Gesetzgeber hierfür wohl eine Grundlage schaffen.


Mehr Tote, mehr Verletzte, mehr Unfälle: Die Zahlen der in Deutschland im Straßenverkehr tödlich Verunglückten sind erstmals wieder gestiegen - nach zwei Jahrzehnten kontinuierlichen Rückgangs. 4009 Menschen kamen im Jahr 2011 bei Verkehrsunfällen ums Leben. Das waren 361 Personen oder 9,9 Prozent mehr als 2010. Damit fielen dem Straßenverkehr durchschnittlich Tag für Tag 11 Menschen zum Opfer, teilte das Statistische Bundesamt nach den nun vorliegenden endgültigen Ergebnissen am 06. Juli 2012 mit (im Beitrag vom 02. Mai 2012 sind die vorläufigen Zahlen benannt). 

Gestiegen ist ebenfalls die Zahl der Verletzten; sowohl die der Leicht-, als auch jene der Schwerverletzten. Mit insgesamt 2,36 Millionen Verkehrsunfällen ging die Zahl gegenüber dem Vorjahr allerdings um 2,1 Prozent zurück. "Abgenommen hat aber nur die Zahl der Unfälle mit ausschließlich Sachschaden, und zwar um 3,2 Prozent auf 2,06 Millionen", berichteten die Zahlenhüter aus Wiesbaden. "Die Unfälle, bei denen Menschen zu Schaden kamen, nahmen dagegen um 6,2 Prozent auf knapp 306.300 zu." Läuten die Zahlen nun eine Trendwende ein oder ist die Zunahme der Toten und Verletzten ein statistischer Ausreißer?

Die Lücke im Gesetz

Für die Hinterbliebenen der im Straßenverkehr tödlich Verunglückten stellt sich diese Frage wohl kaum. Für die Angehörigen bedeutet der Tod nämlich in den allermeisten Fällen einen tiefen Einschnitt in ihr Leben. Neben der Trauer und das Leid um den Verlust eines nahen Angehörigen muss im Falle eines Fremdverschuldens die Regulierung des Unfalls durchgeführt werden. Für diese ist die jeweilige Kfz-Haftpflichtversicherung des Verursachers zuständig. Jene ersetzt die Beerdigungskosten sowie eventuell bestehende Unterhaltsverpflichtungen des Verstorbenen. Einen finanziellen Ausgleich für das Geschehen erhalten die nächsten Angehörigen dagegen nicht. Diese Tatsache stößt nicht nur die Hinterbliebenen bitter auf.

Auch Juristen, Politiker und Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft suchen eine Antwort auf die Frage, ob und wie ein finanzieller Ausgleich an die nächsten Angehörigen des Verstorbenen aussehen kann. Kommt zum Beispiel ein Baby oder Kleinkind bei einem Unfall im Straßenverkehr unverschuldet ums Leben, erhalten die Eltern zwar die Kosten für die Beerdigung ersetzt. Eine Entschädigung für das seelische Leid, den Kummer und die Trauer ist hingegen nicht vorgesehen. 

Nimmt der Tod des Verunglückten bei seinen Hinterbliebenen jedoch ausnahmsweise nachweisbare krankhafte seelische oder körperliche Züge an, welche zweifellos auf das Unfallgeschehen zurückzuführen sind, ist ein Anspruch auf Schmerzensgeld möglich. Dennoch: "Ein 'Angehörigen-Schmerzensgeld' ist im deutschen Recht nicht anerkannt", urteilten denn die Richter des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in einem Fall (OLG Frankfurt, Az.: 1U309/08 vom 14.09.2009). Während beispielsweise der Sachschaden, die entgangene Urlaubsfreude, die Ehrverletzung oder das beliebte Halswirbelsäulen-Syndrom finanziell abgegolten werden, bleibt "der 'normale' Kummer über den Verlust des Angehörigen... ohne Entschädigung."

Solidarität, Genugtuung und Gerechtigkeit 

"Man kann niemandem erklären, dass nach unserem Recht der Schädiger, der sein Opfer tötet, zivilrechtlich oft erheblich günstiger steht als im Falle einer schweren Verletzung", sagte Bayerns Justizministerin Beate Merk. Unter ihrer Leitung setzt sich das bayerische Staatsministerium der Justiz bereits seit längerem für eine zivilrechtliche Verbesserung der Angehörigen von Unfallopfern ein. Die Bemühungen für eine finanzielle Entschädigung sind bereits in einem Gesetzentwurf gemündet. 

"Wir wollen mit dem Gesetz zeigen", so Merk, "dass sich unsere Gesellschaft mit Menschen, denen schweres Leid zugefügt wurde, solidarisch erklärt und alle Möglichkeiten ausschöpft, um Angehörigen wenigstens symbolisch Genugtuung und Gerechtigkeit zu verschaffen." Für den "unendlichen Schmerz naher Angehöriger" habe das derzeitige Gesetz "nur ein Schulterzucken" übrig. Mit dem Gesetz, so Merk weiter, werde "endlich eine Gerechtigkeitslücke" geschlossen. 

Erwartungsgemäß begrüßte die rechtspolitische Sprecherin der für den Gesetzentwurf zuständigen Arbeitsgruppe Recht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Andrea Voßhoff, "die bayerische Initiative zur Verankerung von Schmerzensgeldansprüchen zugunsten enger Angehöriger im Zivilrecht." Auch wenn "kein Geld der Welt den persönlichen Verlust und die Trauer aufwiegen" könnten, gehe es doch um eine "symbolische Genugtuung und Gerechtigkeit" gegenüber den Angehörigen, die die "Anerkennung der Rechtsordnung" verdienten. Das deutsche Recht, argumentiert Voßhoff, hinke in dieser Hinsicht den meisten europäischen Nachbarländern hinterher.   

Deutschland als Nachzügler in Europa

Im Zuge der Harmonisierung der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auch auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft, kommt dem Argument auf die Gesetzeslage in den europäischen Nachbarländern großes Gewicht zu. In ihrer Studie des englischen, französischen und deutschen Rechts bilanzierte die Richterin Annina Schramm, dass "in keinem der hier untersuchten Länder... die vordergründige Ablehnung des Ersatzes immaterieller Schäden so deutlich wie in Deutschland" sei. 

Der bayerische Gesetzentwurf listet als Beleg, "dass Deutschland mit seiner restriktiven Haltung zu Ersatzansprüchen mittelbar Geschädigter in Europa zu einer kleinen Minderheit gehört", weitere Staaten auf, in denen das Leid der Hinterbliebenen entschädigt wird: So zum Beispiel in Frankreich, Belgien, Luxemburg, Spanien, Portugal, Italien, England, Schottland, Irland, in der Schweiz, in der Türkei, in Griechenland, Polen, Ungarn, Slowenien, Kroatien und Serbien. Kurzum: Die aktuelle Gesetzeslage in Deutschland bilde im "internationalen Vergleich einen Fremdkörper" und trage außerdem der "modernen gesellschaftlichen Entwicklung nicht ausreichend Rechnung."

Dass der Bundestag früher oder später eine Angehörigen-Entschädigung beschließen wird, ist wahrscheinlich. Dafür spricht auch die Empfehlung von wichtigen Entscheidern, welche vom 50. Deutschen Verkehrsgerichtstag ausging. Unter der Leitung von Angela Diederichsen, Richterin am Bundesgerichtshof, diskutierten Experten in einer Arbeitsgruppe über die "Ansprüche naher Angehöriger von Unfallopfern". Sie sprachen sich dabei für eine Entschädigung von Ehe- und Lebenspartnern sowie Eltern und Kindern aus. Denn "eine finanzielle Entschädigung für nächste Angehörige Getöteter kann als Symbol für Mitgefühl mit dem seelischen Leid Genugtuung schaffen und ein Gefühl von Gerechtigkeit vermitteln." Wie ein Anspruch auf Entschädigung konkret aussehen soll, führten die Referenten in ihrer Empfehlung nicht aus. Dies müsse Sache des Gesetzgebers sein. Die Höhe des Schmerzensgeldes müsse im Einzelfall vom Gericht bestimmt werden. (ucy)
  
Neben den im Artikel enthaltenen Links, möchte ich Ihnen folgende Seiten empfehlen:
• Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" berichtete über den unverschuldeten Tod einer jungen Frau und den dadurch ausgelösten finanziellen Belastungen ihrer Eltern.
• Die Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Schadensersatz ist u.a. im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert; u.a. in den Paragrafen 253844, 845.